Wojciech Jerzy Has’ poetisches Kino in Sanatorium zur Sanduhr als Antwort auf Bruno Schulz’ mystische Literatur

Für mich ist jeder Film etwas in der Art eines Traums. Ich sehe den Film vor dem Schreiben. (Wojciech, Jerzy Has in „Kino“, 7/1989)

Sanatorium zur Sanduhr (poln. Sanatorium pod klepsydrą) ist der vielleicht bekannteste Film des für seine surrealistischen Filme in Fachkreisen geschätzten Regisseurs Wojciech Jerzy Has (1925–2000). 50 Jahre nach seinem Erscheinen hat das Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien in Halle (im Puschkino) und Jena (im Kino am Markt) den Film im Mai 2023 in seiner Filmreihe „Nic dwa razy. Nichts zweimal – Literatur und Film im Dialog“ (https://www.aleksander-brueckner-zentrum.org/veranstaltungen/detail/nic-dwa-razy-nichts-zweimal-literatur-und-film-im-dialog) erneut vorgeführt und mit dem Publikum diskutiert.

In diesem Artikel will ich auf die Poesie der Literatur von Bruno Schulz und des Kinos von Wojciech Jerzy Has eingehen. Beginnen werde ich mit einem biographischen Abriss des Regisseurs Has und dabei besonders auf seinen Zugang zur Literatur von Schulz eingehen, die seine Vision eines poetischen Kinos geprägt hat. Abschließend sei nach dem Gegenwärtigen beider Künstler zu fragen.

Die Verschiebung von Raum und Zeit

1973 in die Kinos gekommen, ist der auf den Motiven von Erzählungen des jüdisch-polnischen Autors Bruno Schulz aufbauende Film Kulminationspunkt im Schaffen des Regisseurs Has. Er nahm viele Jahre Produktionszeit in Anspruch und war wechselhaften Produktions- und Rezeptionsbedingungen unterworfen. Trotz widriger Umstände (u. a. wurde eine Kopie des Films von Polen nach Frankreich geschmuggelt) gewann der Film im Jahr seines Erscheinens den Jury-Preis auf dem Cannes Film Festival.

Bruno Schulz war der Lieblingsautor des Regisseurs. Die Idee zum Film begleitete Has nach Selbstaussage sein ganzes Leben, während die eigentliche Produktionszeit von drei Jahren von den antisemitischen Hetzkampagnen der Regierung von Władysław Gomułka beeinflusst war. Im Zuge der Studierendenproteste von 1968 in Polen mussten ungefähr 30.000 Jüd*innen das Land verlassen). Nur durch Unterstützung des neugegründeten Produktionsteam der „Silesia“ unter der Leitung von Kazimierz Kutz, das sich trotz des jüdischen Themas hinter den Film stellte, konnte der Film zum Missfallen der staatssozialistischen Regierung in die Kinos kommen. Letzteres äußerte sich in wiederholten Hindernissen bei Produktion und Vermarktung. So wurde beispielsweise in einer Anzeige der Film explizit als Rückblick auf die Kindheit bezeichnet – und nicht als die Verarbeitung des bei Schulz nur angedeuteten Verlusts der jüdischen Bevölkerung Polens. Anders als der Filmtitel suggeriert, verwendet Has Motive und Erzählungen (zum Teil sogar wortgleiche Textstellen und Dialoge) aus beiden Erzählbänden von Schulz, den 1934 veröffentlichten Die Zimtläden [Sklepy cynamonowe] und dem 1937 veröffentlichten Sanatorium zur Sanduhr [Sanatorium pod klepsydrą] (bzw. in der älteren Übersetzung von Joseph Hahn noch aufgrund der Doppeldeutigkeit des polnischen klepsydra missverständlich Das Sanatorium zur Todesanzeige genannt).

Der simple und dadurch in alle Richtungen offen interpretierbare Plot dreht sich um den Besuch des Sohnes Józef (traumwandlerisch wie neutral-distanziert verkörpert von Jan Nowicki) bei seinem Vater Jakub (Tadeusz Kondrat) im Sanatorium. Weder ist deutlich, ob der Vater bereits gestorben, noch, ob er im Sterben liegt oder eine Heilung noch zu erwarten ist. Jozéf trifft auf Doktor Gotard (Gustaw Holoubek), der ihn in die Besonderheiten dieses Ortes einweiht. Die Zeit scheint rückwärts zu laufen, einer anderen, traumgleichen Logik zu folgen; er begegnet seiner Mutter und anderen Personen seiner Kindheit und wird von diesen weiterhin als Schuljunge betrachtet. Auch sein Vater spricht entrückt in mehreren Szenen zu ihm oder einem anderen Publikum von seinen eigenen theologischen und häretischen Deutungen und philosophischen Welterklärungen. Nur das eigene Verhalten und die Raumgestaltung, die Elemente des Märchens aufnimmt und den schnellen Szenenwechsel erlaubt (oft durch den Tisch als Objekt eingeleitet, unter dem sich ein Gang in einen neuen Raum befindet), zeigt Józef an, dass er schläft. Die im Film dargestellte Realität scheint eigenen Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit unterworfen: Obskuritäten und Skurriles der eigenen Wahrnehmung sind hervorgekehrt als Teil der äußeren Welt, die Protagonist wie Publikum bekannten Banalitäten und Absurditäten aufnimmt, diese aber übersteigert und die Sinneswahrnehmung in Zweifel zieht.

Has und sein poetisches Kino

Der Krakauer Has studierte zuerst Architektur an der Jagiellonen-Universität in Krakau, bevor er zum Film wechselte. Während seines Studiums begann er Kurzfilme zu drehen und assistierte u. a. bei den Filmikonen Andrzej Wajda und Andrzej Munk bei Kamera und Regie. Anfang der 60er Jahre drehte er seine bald von der Kritik beachteten ersten Spielfilme, angefangen mit dem Krimi Das unsichtbare Auge und Die Perlen und die Säue. Seine die symbolistische und später – im Stile internationaler experimentellen Filmverfahren – surrealistische Bildästhetik aufnehmenden Filme, die sich durch eine komplexe Narration und existentielle Themen auszeichneten, waren von Beginn an von der Bildkraft von Literatur und Poesie geprägt. Die Poesie (und nicht das Psychologische) galt ihm dabei als ein wichtigstes Ausdrucksmittel und Bindeglied des Filmischen, wie er in seiner Vision eines poetischen Kinos erklärte:

„Mir scheint, dass gerade die weit gefasste Formel des poetischen Kinos in der Lage ist, die kaleidoskopische Wandelbarkeit und die hohe emotionale Temperatur der Wirklichkeit wiederzugeben; reale und imaginäre Welten, Mythos und Realität, historische Requisiten und fantasievolles Spiel, Erinnerung an Gewohnheit und Traumata, historische Fakten und Fiktion, Farbe und Form zu einem einzigen, harmonischen und zugleich ergreifenden Ganzen zu vereinen.“


Marcin Maron: Dramat czasu i wyobraźni. Filmy Wojciecha J. Hasa. Kraków: UNIVERSITAS 2010. S. 16 (Eigene Übersetzung).

Angefangen mit der Handschrift von Saragossa (1964) nach der literarischen Vorlage von Jan Graf Potocki, stellte Has das Sanatorium zur Sanduhr in die Reihe seiner kontinuierlich weiterentwickelten Literaturadaptionen. Entscheidend war ihm eine viele Facetten umfassende Tiefe und Vielschichtigkeit bei gleichzeitiger Offenheit für die Interpretation durch die Zuschauenden, um der individuellen Persönlichkeit der dargestellten Protagonist*innen gerecht zu werden. Die Arbeit am Film und mit Texten beschrieb er als eine endlose Beschäftigung mit der Komplexität individueller Innen-Welten: der Erfahrung, der Sinneswahrnehmung und des Unterbewussten – hier trifft Has auf Schulz und dessen Spiel mit verschiedenen, ineinander verwobenen Zeitschichten.

Has’ Ziel in Sanatorium ist es, der Poesie im Werk von Schulz und darüber hinaus nachzuspüren. Thematisch äußert sich diese Suche in der Offenlegung der Subjektivität der Kindheit, dem Schulz’schen Konzept der Mythisierung der Wirklichkeit (dem der Autor einen eigenen autopoetischen Aufsatz unter dem selben Titel, der in der Neuausgabe der Zimtläden von 2008 zu finden ist, gewidmet hat) und der chassidischen mystischen Tradition. Formal reagiert der Regisseur auf die zirkulare Erzählweise und metaphernreiche Sprache von Schulz durch viele eigenständige Charaktere und das Verweben langer Kameraeinstellungen mit schnellen Schnitten und Überblenden. Der Film ist keine klassische Literaturverfilmung, sondern lässt sich eher als experimentelle Literaturadaption und -transformation fassen. Seit seiner Jugend beschäftigte sich Has mit Schulz; eine Verfilmung des Schulz’schen literarischen Kosmos war für Has ein Lebensthema. Gleichzeitig behielt er sich vor, nicht wortgetreu das Werk zu adaptieren, sondern vielmehr „die Poetik des Werks“, das Einzigartige der eigenen Welt zu ergründen. Wie in vielen seiner filmischen Literaturadaptionen sind die intermedialen Verfremdungseffekte, die den Unterschied zum Ausgangswerk verdeutlichen und dabei eine idiosynkratische Eigenlogik behalten, die interessantesten: sowenig wie der Titel nur auf die eine einzelne Erzählung von Schulz verweist (u. a. sind auch weitere Fragmente aus Der Frühling, Das Buch, Die geniale Epoche und Motive wie der Taubenschlag des Vaters und die Mannequins aus den Zimtläden verarbeitet), so sehr war es dem Regisseur daran gelegen, den Stoff weiterzuentwickeln und den Bruch mit der Geschichte durch die Shoah, die bei Schulz nur als düstere Vorahnung zu erkennen ist, kenntlich zu machen. Schulz war der Autor, der Has half, sich in seinen Filmen der Problematik des Vergehens der Zeit und damit des Lebens zu stellen,

Das Motiv der unwiederbringlich verlorenen Zeit markiert der Regisseur in der Verschmelzung von Bild, Bühnenbild, symbolhafter Ausstattung und der von Jerzy Maksymiuk komponierten Musik jedoch deutlich düsterer und zeichnet ein Bild der untergegangenen Welt der Vergangenheit: der Kindheit von Józef, repräsentiert durch seinen Vater, wie auch der jüdischen Lebenswelt der galizischen Shtetl, wie in einer der Schlussszenen der vorher noch belebte Marktplatz nun voller Grabsteine darstellt. Der Film ist vor dem Hintergrund der Katastrophe der Shoah zu verstehen, an der Schulz 1942 durch die Hand eines SS-Beamten im Ghetto von Drohobycz starb. Zugleich webt Has auch Elemente seiner eigenen Erinnerung an die Kindheitsjahre im Krakau der Zwischenkriegszeit ein. Unterstrichen wird dies durch eine andere Tonlage, andere Farbschattierungen und einen noch stärker düsteren, schrilleren und doch melancholischen Grundton. So erreicht Has durch andere Mittel eine Grundintention von Schulz, unbeachtete Details und Leben auf den „Nebengleisen der Zeit“ in den Mittelpunkt zu rücken, „Dinge, die zu groß sind und trotzdem passen“ (wie es in Das Buch/Księga heißt) in ihrer überquellenden, mäandernden Art zu erfassen – meist in einer uneindeutigen Mixtur aus Traum, individueller wie kollektiver Erinnerung, vom Unterbewusstsein getriebener Vision oder einer eigenen Parallelwelt. Ein Spiel mit Zeichen, das nicht aufzulösen ist und aus Prinzip erweiterbar ist. Ein Open-World-Videospiel wäre nur eine logische Konsequenz.

Warum heute Schulz, warum Has?

Has schafft es, in Sanatorium den Geist, die eigene Mystik und die Themen von Bruno Schulz’ Geschichten kongenial ins filmische Medium zu übersetzen. Es ist eine Erweiterung der Welt, die zwar zuendegegangen ist, aber erfahrbar und unergründlich bleibt. Has wird auf eigenständige Weise dem Anspruch des Autors Schulz gerecht, die Universalität des Lebens in seinem Werk und alle existentiellen Themen (und seien diese nun symbolisch angedeutet) miteinfließen zu lassen. Im Kontext des jüdischen Denkens wird die Reise von Józef, der über alle Protagonisten bis auf Dr. Gontard hinauswächst, eine Auseinandersetzung mit der Kindheit, mit der Phantasie und den eigenen Dämonen, eine Reflektion über Vergänglichkeit, die Rolle der Vergangenheit für das eigene Leben und das Verhältnis der Generationen. Has’ weiterhin aktuelle Bearbeitung begegnet dieser zum Scheitern verurteilenden Fülle des literarischen Stoffes im filmischen Medium (bis auf den Animationsfilm Street of Crocodiles der bisher einzige Versuch der Adaption) in einer anspielungsreichen und experimentellen Weise. Nur so gelingt es dem Film, eigenständig, weil transformativ und weiterdenkend sich zu entwickeln; er macht Lust auf die Texte von Schulz und lässt sich zugleich als eigenes Kunstwerk genießen. Beide Poesien und ihre Umsetzungen machen sich auf Richtung Kindheit, eine Rückkehr zum transzendentalen Ganzen, wie es Schulz in seiner Philosophie formulierte und Has verstand. Auf dieser ewigen Reise sind Neugier, Experimentierfreude und mehrere Stimmen umfassende Offenheit gute poetische Steuerinstrumente.

Über Johann Wiede

Nicht-Schreiben heißt Lesen.
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